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venerdì 27 novembre 2015

Die Ruckkerhr der italianischen Militarinternierten - Karina Zehtner

 LXXVI n. 6  Supplemento.  Quaderni n. 1 giugno 2015

                       

    Die Rückkehr der italienischen Militärinternierten






Karina Zehetner[1]
























Die italienischen Militärinternierten fanden bei ihrer Rückkehr aus den deutschen Lagern nach Beendigung des Konfliktes weder von der italienischen Regierung, noch von der Bevölkerung selbst, wenig Anerkennung, während die Partisanen der Resistenza, die zu Hause gegen den Feind kämpften und so aktiv zur Befreiung ihres Heimatlandes beigetragen hatten, sich rühmten und sich verherrlichen ließen. Für die Internierten war es jedoch offensichtlich, dass ihre Leiden in den Lagern, nicht nur materiell, sondern vor allem physisch und psychisch weit schlimmer waren, als die von jenen Soldaten, die stolz und offen dem Feind entgegengetreten waren.



Und auch die Zahl der Toten war weitaus höher als auf den Schlachtfeldern der Partisanen. Die italienischen Militärinternierten erwarteten sich, dass ihnen von den Partisanen ein glorreicher Empfang geboten würde, angesichts der tragischen Situation, in die sie der Faschismus gebracht hatte. Es kam jedoch anders. Als sie bemerken mussten, dass ihr Heimatland, im Unterschied zu anderen Nationen, bei ihrer Rückkehr ihren Leiden wenig Aufmerksamkeit schenkte, waren sie schwer enttäuscht.[2]


Der Weg nach Hause



Nach dem Selbstmord Hitlers  am 30. April 1945 und  der darauffolgenden Kapitulation Deutschland am 9. Mai, war das Martyrium für einen Teil der Internierten zu Ende. Der Ablauf ihrer Freilassung war von Lager zu Lager verschieden. In den Lagern wußte man bereits vor den Tagen der Befreiung um die ernste Situation für die Deutschen und um ihre bevorstehende Kapitulation, und dass die Niederlage nur mehr eine Frage der Zeit sei. Je nach Position der Lager wurden sie früher oder später von den Briten und Amerikanern übernommen. Leider waren die glücklichen Momente der Freilassung für viele Internierte nur von kurzer Dauer, denn über Hunderttausend wurden trotz Kriegsende von den Amerikanern nach Frankreich zur Internierung gebracht.

Mit der Ankunft der Alliierten verbesserte sich der physische Zustand der Gefangenen und Internierten aufgrund der gesicherten Nahrungsmittelversorgung. Wer nicht zu schwach und krank war, konnte zudem das Lager verlassen. In den deutschen Städten nahe den Lagern, bzw. in denen sich die Lager befangen, herrschte Chaos. Ehemalige Gefangene verschiedenster Nationen zogen durch die Straßen auf der Suche nach Unterkunft und Nahrung. Der Großteil der Internierten fand sich nach der Freilassung verlassen und auf sich allein gestellt wieder. Da die Brücken und Eisenbahnschienen zerstört waren und ihre Instandbringung eine Frage der Zeit war, mussten sie oft Tage lang auf den Abtransport warten. Bis dahin übernahmen zum Teil die Alliierten, vor allem aber das Internationale Rote Kreuz und die Pontificia Commissione (italienische kath. Vereinigung) ihre Versorgung. Da die Internierten keinen gemeinsamen Repräsentanten in den einzelnen Komitees oder Kommissionen der Alliierten hatten, musste jede Vergünstigung zwei oder drei mal ausgehandelt werden. Die italienischen Militärinternierten standen nach ihrer Befreiung vor großen Schwierigkeiten. Diese ergaben sich aus der Tatsache, dass die italienischen Transportmittel rar waren und der Staat Italien keine Machtbefugnis hatte, während die Kommissionen anderer Nationalitäten (Russland, Polen, Franzosen, Holländer, Belgier) mit Leichtigkeit von ihren Landsmännern zur Verfügung gestellt bekamen.[3]

Ein englischer Offizier befreite zum Beispiel am 16. April 1945 die italienischen Internierten aus dem Lager Wietzendorf, denen sich eine Anzahl von französischen Kriegsgefangenen, allesamt Offiziere, anschloss. In Bergen-Belsen, wo das französische Kommando mit der SS und den Engländern einen Waffenstillstand vereinbart hatte, wurde das Lager ebenfalls evakuiert und die Italiener konnten die englische Grenze überschreiten. Kurz darauf wurden die französischen Offiziere mit Flugzeugen heimgebracht. Die Italiener hingegen wurden erst nach einer Woche nach Wietzendorf gebracht. Während die französischen Offiziere hier als „Alliierte“ bezeichnet wurden, führten die Italiener nur den Status „Co-Kriegsführende“, welcher aber ebenfalls nicht von allen Alliierten anerkannt wurde. Die Ex-Internierten hatten weder Kontakt zur Regierung noch zu den italienischen Militärkommandos. Die Befreiung aus dem Lager, so Vittorio Giuntella, bedeutete nicht die sofortige Heimreise, es war eine schmerzhafte Niederlage des Enthusiasmus.[4] Einige versuchten zu Fuß aufzubrechen, wurden doch sehr bald wieder von den Amerikaner ins Lager zurückgebracht, wo zumindest auf die Schwächeren der Tod wartete. Ein Fluchtversuch war nicht leicht: Abgesehen vom schlechten Gesundheitszustand verfügten die Gefangenen weder über Geld noch hatten sie Sprach- oder Ortskenntnisse. Oft dauerte das Warten auf den Abtransport bis zu einem Monat.[5] Ein Ex-Internierter beschreibt den Rückweg als ein zweites Trauma, das überstanden werden musste. „Es war fast so als ob man von einer anderen Welt kommt, und es ist unmöglich sich den Grad unserer Desorientierung vorstellen zu können.“[6]

Die Heimreise wurde zu zweit, zu dritt oder in Gruppen, mit Fahrrad,  Motorrad, Zug oder Auto in Angriff genommen. Motorisierte Fortbewegungsmittel mussten oft aus Mangel an Benzin zurückgelassen werden. In vielen Fällen wurde die Abreise von den Alliierten organisiert. Bei den Italienern war es das Hilfswerk des Vatikans, die P.O.A. (Pontifica Opera Assistenza), das als erste Lastwägen organisierte, um ihre Landsleute heimzubringen. Je nördlicher die Internierungsstätten waren, desto länger mussten sie auf die Abreise warten, in vielen Fällen bis Ende August. All jene, die auf österreichischem Gebiet interniert waren, machten sich zu Fuß auf den Heimweg. [7]

Die italienische Regierung versuchte erfolglos das Interesse der Alliierten für eine rasche Abwicklung der Heimreise zu gewinnen. Auf die Bitte um Unterstützung von Ratspräsidenten Bonomi antworteten die alliierten Behörden, dass niemand nach Deutschland gehen könne um sie abzuholen: „Und die Kriegsgefangenen werden dann heimkehren, wann sie an die Reihe kommen. Da gibt es nichts zu machen.“[8] Trotz dieses Kommentars der Alliierten ließen sich die italienischen Vertreter des katholischen Hilfswerkes nicht entmutigen und baten um eine Audienz beim Papst. Ihn überzeugten sie von der Dringlichkeit des Heimtransportes und versuchten seine Unterstützung zu gewinnen. Tief getroffen von den schrecklichen Umständen, in denen sich die italienischen Internierten befanden, ließ der Papst Pius einen Vertreter nach Deutschland entsenden, um in seinem Namen die Alliierten zur Intervention in dieser Angelegenheit zu bitten. Einen Tag nach Ankunft dieser Nachricht begannen die Alliierten mit dem Heimtransport der italienischen Gefangenen. Auch wenn die Alliierten bei der Räumung der Lager mit enormen Problemen konfrontiert waren, waren diese im Vergleich zur Situation in Italien nach der Rückkehr minimal. Traurig und zufrieden zugleich verließen sie die Lager, zum einen immer in Gedenken an die Tausenden, die ihr Leben lassen mussten, zum anderen in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen der Geliebten zu Hause. Jeder respektierte das lange Schweigen des anderen. Nicht nur die Erfahrung war zu verkraften, sondern auch Schuldgefühle, die auf ihnen lasteten. Es schien ein Gefühl der Schuld zurückgekehrt zu sein. Oft hörte man die Frage: „Warum ich und nicht er?“[9].

In den Tagebüchern der Heimkehrer werden immer wieder die großen Emotionen betont, die die Überquerung des Bremmers auslöste.  Wieder heimatlichen Boden unter den Füßen zu spüren, das Gefühl der Vertrautheit, die Nähe zur Familie war überwältigend. Die erste Etappe war über Pescantina, in der Nähe von Verona, wo die Heimkehrer eine Dusche nahmen und desinfiziert wurden. Der Aufenthalt dauerte im Durchschnitt zwei bis drei Tage, die Reise wurde anschließend mit Zivil- oder Militärfahrzeugen fortgesetzt.
Die Internierten wurden in Richtung Mailand, Udine, Como oder Bologna gebracht, wo sich die Sammelstellen für die Weiterreise in den Süden befanden.[10] Die Aufnahme und Betreuung in den „posti di ristorso“ wurde dem italienischen Roten Kreuz anvertraut, das wiederum der freiwilligen Mithilfe der Bevölkerung bedurfte. Trotz der Anstrengungen, die diese Organisationen auf sich nahmen, waren die Heimkehrer enttäuscht. Sie bemerkten die fehlende Unterstützung durch die staatlichen Behörden und wurden sich so dem fehlenden Interesse an ihrem Schicksal bewusst. Alle Entschädigungserwartungen wurden enttäuscht. Die Situation in Italien zeigte sich                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      katastrophaler als noch während des Krieges, die Heimkehr der Kriegsgefangenen war für die Regierung eines der kleineren Probleme, die sie bedrängten.[11] Die karitativen Initiativen des katholischen Hilfswerkes P.O.A. wurden besonders von den heimkehrenden Internierten nicht geschätzt, so Bertacchi. Die negativen Aussagen lassen vermuten, dass die Enttäuschungen und Desillusionen gerade auf die erste Instanz, welche die Heimkehrer aufnahm, projiziert wurden:

Die große Enttäuschung war die Ankunft in Bergamo, sie hatten uns in die Clementina (Sammelzentrum) geschickt......mir haben sie ein Paar Socken gegeben.....das war die Bezahlung. Und als wir in Schilpario ankamen, haben sie uns ein Kilo Salz gegeben.“[12]

„...Wir sind am Abend in Bergamo angekommen, wir hofften auf ein ordentliches Essen hier. Wir waren seit drei Tagen unterwegs....dann war die Flasche eine Wasserflasche, ein bisschen Brot und ein kleines Stück Käse und wir gingen schlafen....“[13]

„Die Behandlung die uns die Klosterschwestern in der Pescantina  zukommen haben lassen.......die Behandlung für jene die aus Deutschland kamen: Sie gaben dir einen Teller Reis, Risotto, ja, sie gaben dir zu essen. Ich weiß, dass wir heimgekehrt sind, wir haben einen Teller Reis gegessen, er war gut, wir fragten, ob noch etwas davon übrig ist, sie hat gesagt es gibt nichts mehr, während die anderen Klosterschwestern draußen waren und ihn den Hühnern gegeben haben.[14]

Diese verbreiteten negativen Aussagen der ehemaligen Internierten über die erste Hilfeleistung spiegeln für Giovanna Bertacchi die Tatsache wider, dass im Bezug auf die Hilfeleistung der Konsens mit den Empfängern nicht funktioniert hätte. Dieses Phänomen kann auf die starke Präsenz der katholischen Hilfsorganisationen durch die Vorherrschaft der Christdemokraten in der Nachkriegszeit zurückgeführt werden. Im Sommer 1945 war die anfängliche Unterstützung von Seiten des C.L.N. (Komitee der nationalen Befreiung) für die ehemaligen Internierten eher als ein Zeichen der Aufmerksamkeit und der Solidarität zu verstehen. Für die Zukunft erhoffte man sich vom „Ufficio provinciale assistenza“ (regionales Hilfsamt) wirkungsvollere und effektivere Vorkehrungen. In allen Fällen wurde die Hilfeleistung des P.O.A. und die folgenden Zuschüsse der weltlichen Institutionen als spöttische, lächerliche Entschädigung empfunden, die ohne konkrete Bestimmungen, - teilweise sogar mit persönlicher Diskriminierung -  auf der Basis von Empfehlungen, politischen Sympathien, etc. verteilt wurden.[15]




Die Ankunft in der Heimat: Illusionen und Frustrationen


Es war nicht immer eine glückliche Heimkehr, im Gegenteil, die meisten Fälle zeigen eine bittere Konfrontation mit der Realität und ein Gefühl, das Freude und Schmerz in sich vereint. Geliebte Personen waren Opfer des Krieges geworden und in vielen Fällen lag das Elternhaus in Trümmern. Zusätzlich machte die schmerzende Gleichgültigkeit der Mitmenschen, auch der Freunde und Verwandten,  die Heimkehr zu einem tragischen Erlebnis. Die Ankunft im Vaterland Italien gestaltete sich anders als in 20 Monaten ersehnt worden war. Die erwartete Heimkehr als Held, als wiedergefundener Sohn, entpuppte sich als Illusion. Die einzige Auskunft, die man von den Heimkehrern forderte, waren Notizen von noch nicht zurückgekehrten Angehörigen. Niemand interessierte sich dafür, wer sie waren, ob Feige oder Helden, oder wie sie als Sklaven in Deutschland endeten. Uninteressant waren ihre Leiden. Nicht nur die Aufnahme im Vaterland war eine Frustration und Illusion, sondern auch die sich dramatisch verschlechterte ökonomische Situation der Familie war für viele eine noch schmerzlichere Erfahrung. Die Wiedereingliederung in die Zivilgesellschaft gestaltete sich schwierig, waren sie einerseits physisch frei, so blieben sie andererseits doch Gefangene ihrer Erinnerungen. Zweifel am Glauben an das Vaterland keimten in ihenen hoch, geschürt vom Misstrauen und der Gleichgültigkeit ihrer Landsleute.[16]

Giuliana Bertacchi beschreibt die Problematik der Aufnahme der Kriegsheimkehrer bei ihrer Rückkehr sehr ausführlich. Wenn man sich dem Argument annimmt, wird man in den meisten Fällen auf eine Reihe von negativen Gefühlen und Einstellungen treffen: Gleichgültigkeit, Belästigung, Unterbewertung und Ablehnung. Um das zu bestätigen, meint Bertacchi, brauche man nur eine kurze Analyse der italienischen Geschichtsschreibung zu den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und den ersten Jahren der Republik vornehmen. Man wird erkennen, dass diesem Problem wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Diese fehlende Anerkennung des dramatischen Problems der Heimkehrer kann ihrer Meinung nach in bestimmter Weise auch das kollektive Gedächtnis verändert haben. Die Gefangenschaft verursacht, - auch unter humanen Umständen, -immer einen Bruch der Entfremdung. Die Deprivation der Nachrichten und der Kontakte mit der Außenwelt ist eine der bedauerlichsten Aspekte der Gefangenschaft. Die Entfremdung steigt proportional mit den Leiden, dem Hunger, den Misshandlungen bis zur Auslöschung der eigenen Identität.  Italien, so ein Ex-Internierter, war ab einem bestimmten Zeitpunkt eine vernebelte Sache für ihn. Es gab für ihn Momente, in denen er sich nicht mehr sicher war, ob er in Italien geboren sei, oder ob es sich bloß um eine Erzählung handelte.

Die Vorstellungen der Internierten von ihrem Heimatland und das Land, das sich den Heimkehrern bei ihrer Ankunft präsentierte, stimmten nicht überein.[17] Besorgnis und Angst vor dem Unbekannten, vor dem, was einem hinter den Grenzen erwartet, waren die dominierenden Elemente der Aussagen der Ex-Internierten. Die Gefühle der Heimkehrer in diesen Tagen waren teilweise sehr konfus, denn einerseits waren noch die Ängste einer schrecklichen aber zurückliegenden Situation präsent, und anderseits befanden sie sich in einer Situation, die für sie neu war. Nicht alle konnten sich erinnern, Freude und Berührung bei der Ankunft verspürt zu haben. In einzelnen Fällen bemerkten die Heimkehrer nicht zu Hause angekommen zu sein. Für viele bestand die Erinnerung nur aus Gefahren der letzten Etappe ihrer Strecke über den Brenner oder nach Tarvis. Die Realität konnte vom patriotischen Paradigma des Heimkehrers der den Boden seines Vaterlandes küsst, kaum ferner liegen. Das dominierende Element blieb die Unsicherheit. Doch diese Angst wurde den Heimkehrern nicht genommen, denn die Haltung der Bevölkerung ihnen gegenüber war feindlich. Es war die Feindlichkeit und Gleichgültigkeit einer Bevölkerung, die einen Teil der Verantwortung für das Dilemma den Heimkehrern anlastete.[18] Die Art der Aufnahme und des Empfanges hing aber in vielen Fällen auch davon ab, wo die Heimat des Rückkehrers lag. Aus den Interviews von Nicola Labanca geht hervor, dass zum Beispiel ein ehemaliger Internierte mit einem reichen, von der Gemeinde organisierten Festessen begrüßt worden war. Labanca verweist darauf, dass die Ankunft in kleinen Gemeinden sehr verschiedene Vorteile mit sich brachte, während die Ankunft in größeren Städten kaum beachtet wurde, und viel schwieriger war. In den kleinen Gemeinden mit ihren Traditionen und den viel engerem Sozial- und Beziehungsnetz, war es auch nicht unmöglich, dass sich ein Ex-IMI und ein Ex-Partisane trafen, und ihre gemeinsamen Erfahrungen austauschten, indem sie das Drama eines gemeinsamen nationalen Gedächtnisses rekonstruierten. Dieser Unterschied zwischen Stadt und Land wird auch später, im Zeitraum der Arbeitsvermittlung, wieder evident. Wie aber aus den Interviews von Labanca hervorgeht, war die ländliche Idylle bei Ankunft meist nur von kurzer Dauer, denn schon bald folgten nächtliche Alpträume, psychische Krisen und die Schwierigkeiten der Wiedereingliederung ins Zivilleben.[19]

Die Aussagen der Interviews, die Giuliana Bertacchi mit italienischen Ex-Internierten gemacht hatte, beschreiben sehr gut die Enttäuschungen und Desillusionierungen der Heimkehrer. Die negativen Erlebnisse bei der Ankunft dominieren ihre Erinnerungen, Italien war für viele schlimmer als zuvor. Die staatlichen, zivilen und vor allem            militärischen Institutionen blieben den ehemaligen Internierten in schlechter Erinnerung. Die staatliche Eisenbahn bestand auf das Lösen einer Fahrkarte, der militärische Bürokratismus machte auch vor ihrer Heimreise keinen Halt. Die Reise in Italien mussten viele in Viehwaggons fortsetzen, wenn sie in Gruppen organisiert waren, und ihre Kleidung nur aus schmutzigen Fetzen bestand. Präpotenz und Verachtung bestimmte das Klima in den Zügen. Die Revolution der Preise verschlimmerte das Elend. Bitter war die Erkenntnis, dass als sie mit einem Glas Wein auf ihre Rückkehr anstoßen wollten ihr Geld nichts mehr wert war.[20]





7.     Das Schweigen der Internierten


Die schwierigste Grenze, die zu überschreiten war, war nicht die des Staates, sondern jene des häuslichen Kreises der eigenen Stadt oder des eigenen Dorfes. Es war der Kreis, der sich um die Familie konzentrierte, und dem sich die Heimkehrer mit Angst und Sorge näherten. Die Gefangenschaft hatte nicht nur das Äußerliche verändert, sondern hatte vor allem die affektive Kommunikationsfähigkeit geschädigt, den Einklang mit der gewohnten Umgebung, mit dem normalen Leben.  Ein Ex-Internierter schilderte seine Ankunft im Kreis der Familie:

„...Mein Vater rannte mit dem Herz in der Lunge aus dem Haus, der Arme, ich kann mich noch gut erinnern. Nichts.....wir umarmen uns, alle Feierstimmung.... Meine Mutter weinte, mein Vater weinte, es weinten alle. Ich nicht, ich weinte nicht, ich bin ein wenig abgehärtet, ein bisschen unsensible in Bezug auf einige Sache.“ [....]  Mein Vater sagte mir: „Was machst du hier?“ Er fragte mich,  warum ich nicht ein wenig aus dem Haus gehe? Aber ich konnte nichts trinken, mir ging es nicht so gut. Mein Vater hörte nicht auf zu schreien: „Was machst du hier, warum gehst du nicht ins Gasthaus?“ Er wollte nicht, dass ich im Haus bleibe. „Geh ins Gasthaus, trink doch mit den anderen!“ um nicht hier zu bleiben und auf die Sachen zu starren[21]

Claudio Sommaruga, Ex-Internierter, sieht die Befreiung aus den NS-Lagern und die Rückkehr in die Heimat als einen Übergang in das „Lager Italien“[22]. Physisch frei, doch Gefangener seiner Gedanken. Die Gleichgültigkeit und das Unverständnis von Seiten der Bevölkerung führten einerseits zur Frustration, andererseits kam erschwerend dazu, dass ihm der moralische Beistand seiner „Gruppe“ fehlte, und ihm so das Gefühl des Alleinseins vermittelte. Anfangs passierte es ihm, dass er sich seines Schicksals wegen schämte: „Wenn sie mich danach fragten, was ich nach dem 8. September gemacht hatte, versuchte ich schnell den Diskurs zu wechseln.“[23] Mit der Zeit stelle sich ein Minderwertigkeitskomplex gegenüber den „anderen“ ein, den Partisanen, die als Helden gefeiert wurden. Es war so, als ob das dramatische Massenopfer, der gewaltlose Widerstand, nichts wert war, so Sommaruga. Er selbst und seine Kollegen waren sich des Wertes ihres Opfers wohl bewusst. Der Historiker Della Santa sieht dies in gleicher Weise, auch wenn das Werk der Internierten in ihrer Heimat nicht verstanden wurde, ließen sie in gemeinsamer Diskussion nie einen Zweifel an der Richtigkeit ihrer Entscheidung aufkommen. Sie traten nie mit Forderungen an die italienischen Behörden oder an die Bevölkerung heran.  Trotz den Schwierigkeiten, die sie und das Land nach ihrer Rückkehr zu bewältigen hatten, akzeptierten sie, was man ihnen gab, ohne den Behörden bei ihrer Wiedereingliederung zur Last zu fallen.[24] Ugo Dragoni bezeichnete dieses Verhalten als „das Schweigen des Internierten“[25]. Sommaruga sieht in dieser gleichgültigen Aufnahme ein große Ungerechtigkeit:
Die Juden hatten keine Wahl zu treffen, die Patrioten entschieden sich für eine unwiderrufliche, indem sie der Resistenz beitraten, wo es kein zurück mehr gab. Doch wir, die Internierten, wir führten eine durchgehende Entscheidung, für zwanzig Monate, eine zu jedem Zeitpunkt widerrufliche: ein entfremdenderer  Schmerz als der Hunger.“[26]

Sie fühlten sich nicht wie Helden, denn Helden sind Ausnahmen und treten aus der Masse hervor, doch die Internierten waren eine stolze Masse, die zu einem teuren Preis ihre Pflicht erfüllten. Sie verlangten keine Ehrungen, jedoch Respekt, sie wollten kein Mitleid, so wollten gemeinsam mit all den anderen, geachtet oder nicht geachtet, ihr Land wieder aufbauen. Die „anderen“, so Sommaruga, versuchten die Leiden und die Trauer des Krieges von sich abzuschütteln, sie begannen Boogie Woogie zu tanzen, und dabei störten die bitteren Erzählungen der Internierten. „Man ließ uns nicht sprechen, und wir hatten doch soviel zu erzählen. Man fragte uns auch nicht, es interessierte niemanden und deshalb konnte uns auch keiner verstehen, oder wollte uns keiner verstehen. Wir wollten darüber sprechen, wir wollten das drückende Gewicht loswerden, doch erinnern bedeutete Wunden öffnen und deshalb schwiegen wir auch gegenüber unseren Kindern.“[27]

Die Rückkehr ins Heimatland und in den Kreis der Familie war für viele ein weiteres dramatisches Erlebnis. Raimondo Finati, Ex-Internierter, bezeichnet die Zeit als „il Dopolager“ (die „Nachlagerzeit“), für ihn, aber auch für alle anderen Ex-Internierten, ist diese Zeit noch immer nicht zu Ende, und wird auch nie zu Ende gehen. Sie wird nur mit seinem Verschwinden beendet sein, so Finati. Es ist eine Zeit, die immer mitgetragen wird, etwas Undefinierbares, das ihn, und mit Sicherheit auch viele seiner Kollegen, auch heute beunruhigt. Die Ursache für die ständige Präsenz dieser Gedanken sieht er in dem fehlenden Ventil der Erlebnisse in der Zeit der Rückkehr. Es war unmöglich mit den anderen über diese Erlebnisse zu sprechen, nicht einmal die Eltern oder Verwandten waren fähig zur Kommunikation, denn auch sie waren verzweifelt, erschöpft und zerstört durch die schrecklichen Leiden, die sie ertragen mussten. Auch sie, so Finati, erzählten uns oft nichts über ihre Leiden, und so taten es auch wir mit unseren. Die Verdrängung der Leiden war ein sehr allgemeines Phänomen.[28]

Paolo Desana beschreibt seine Heimkehr von den deutschen Lagern folgendermaßen: „Ich hielt mich nicht damit auf, den Effekt, den diese Heimkehr nach Italien auf uns hatte, zu beschreiben. Wir sahen Italien wieder. Wir hofften unsere Familien noch vollständig aufzufinden. Ich fuhr von Pescantina (Sammelzentrum für die Heimkehrer) ab, kam nach Casale Monteferrato und traf meine Familie am Schlossplatz. Ich sah sie an, umarmte sie und dann, zu Hause angekommen, sagte ich: „Ich erzähle euch meine Geschichte, und dann Schluss damit.“ Für 30 Minuten habe ich erzählt und dann habe ich nie mehr davon gesprochen.“[29] 

Nach der Heimkehr von der Gefangenschaft haben viele diesen Weg gewählt, nicht nur jene die nach dem 8. September 1943 in die Lager des Dritten Reiches geschafft wurden, so Massimo Sani.[30] Viele Faktoren sind für dieses Schweigen verantwortlich, doch in Bezug auf die ehemaligen Militärinternierten, war die Enttäuschung und die Frustration bei ihrer Ankunft für ihr Verstummen ausschlaggebend. Hinzu kommt die fehlende Anerkennung in den ersten Jahren der demokratischen Regierung. Giovanni Guareschi, Ex-Internierter, verlieh in seinem Tagebuch seiner Desillusioniertheit Ausdruck:

„Für meine Lagerkameraden bleibe ich immer die Nummer 6865 und deshalb zähle ich allein für einen. Dort, in diesem Sand und in dieser Melancholie, entledigte sich jeder seiner Kleider und seiner Hülle und blieb nackt. Es zeigte sich das, was man wirklich war.
Es half auch die Tatsache nichts, dass dieser Typ einen großen Namen hatte oder eine wichtige Stellung: Jeder zählte für das, was er wert war.
Man muss sagen, jeder zählte für eine Einheit. Und jeder wurde für das betrachtet und geschätzt, was er machte. Wir standen alle gemeinsam mit den Füssen vor der Realität. Für fast zwei Jahre haben wir in der wahren Demokratie der Ehrenmänner gelebt: Heute nehmen viele von unseren Kameraden in dieser falschen Demokratie von Ehrenmännern wichtige Posten im öffentlichen und privaten Leben ein. Und vielleicht sind einige unter ihnen keine Ehrenmänner von damals mehr, denn der Mensch ist immer das Produkt der Umwelt in der er lebt.  [...]
Wir haben nicht wie Bestien gelebt. Wir haben uns nicht in unseren Egoismus eingeschlossen.  Der Hunger, der Dreck, die Kälte, die Krankheiten, die verzweifelte Sehnsucht nach unseren Müttern oder unseren Söhnen, der finstere Schmerz durch das Unglück unseres Landes haben uns nicht besiegt. Wir haben nie vergessen, dass wir zivile Männer sind, Männer mit Vergangenheit und Zukunft.“ [31]

Die Seite aus Guareschis Tagebuch drückt sehr gut die Enttäuschung der Ex-Internierten nach ihrer Rückkehr ins Heimatland aus. Nicht nur die fehlende Aufnahme löste die Enttäuschung aus, sondern die ideale Welt von Heimat und Familie, die sie    lange erträumt hatten, in ihren Gedanken vorhanden war, jedoch im Lichte der Realität verschwand und Bitterkeit hinterließ.

Hugo Dragoni stieß bei seiner Recherche auf die gleichen Phänomene wie Claudio Sommaruga, Paolo Desana oder Raimondo Finati. Die erste Enttäuschung widerfuhr den Ex-Internierten bei ihrer Rückkehr bereits in der Familie, wenn sie von ihren Hungerleiden, den Bombardierungen, der Folter etc. erzählten, mussten sie sich anhören, dass auch die in Italien verbliebenen Verwandten die gleichen Leiden ertragen hatten. Es war schwer, eine Graduierung der moralischen und physischen Leiden vorzunehmen, sie konnten ihr unfassbares Martyrium den zuhause Gebliebenen nicht mitteilen. Noch schwieriger war es jedoch, zu erklären, wie es war, sich 17 oder 18 Monate hindurch gegen den Betritt zur Republik von Salò entscheiden zu müssen,  wenn dadurch alle Leiden zu Ende gewesen wären. Nur untereinander konnten sich die ehemaligen Internierten austauschen, denn nur die Lagerkameraden verstanden einander, so Dragoni.

Nach dem Unverständnis von Seiten der Familie, folgte das der Behörden und der Autoritätspersonen, die die Heimkehrer aus deutscher Gefangenschaft vernachlässigten. Sie taten es nicht mit schlechter Absicht, sondern waren aufgrund der vielen Probleme mit denen Italien nach dem Krieg zu kämpfen hatte einfach überfordert. Die Folge dieser Umstände war, dass sich die heimgekehrten Internierten vergessen fühlten und sich dieses Gefühl der Ferne in ihren Seelen festsetzte. Schuldgefühle stiegen in ihnen auf, die zu Minderwertigkeitskomplexen führten, ausgelöst durch ihr passives Verhalten im Moment des Waffenstillstandes. Sie bedauerten ihr Verhalten, wenn sie es mit dem aktiven Widerstand der Partisanen oder der Kampfgruppen verglichen, die mit Waffengewalt gegen die Deutschen gekämpft hatten. Die ehemaligen Internierten vermieden es, in der Öffentlichkeit ihre unscharfen Erzählungen preiszugeben. Sie steckten zurück, angesichts der aufsehenerregenden Heldentaten der Partisanen, die die Räume des öffentlichen Lebens besetzten und somit immer auf den Titelseiten der  Zeitungen und im Radio waren.[32]

Die Tatsachen, dass die Angehörigen der Resistenza nach dem Krieg als Helden gefeiert wurden, und dass die Taten der ehemaligen Kriegsgefangenen und Militärinternierten wenig Aufsehen erregten und unmittelbar nach ihrer Heimkehr in Vergessenheit gerieten, waren ein Mitgrund für das Schweigen der IMI.

Die weitverbreitetsten Bilder der Resistenza sind bestimmt jene der Tage nach der Befreiung des Landes. Sie zeigen Gruppen von bewaffneten Partisanen mit strahlenden Gesichtern, die den Moment ihres Sieges festhalten wollen. Mit unvergesslichem Charakter sind diese Aufnahmen ins kollektive Gedächtnis der Bevölkerung eingegangen. Die Momente der Heimkehr der ehemaligen Kriegsgefangenen und Militärinternierten erregten weniger Aufsehen, ihre Bilder sind schwieriger in Erinnerung zu rufen. Der Historiker Giorgio Rochat verweist darauf, dass sich kein Land und kein Heer gerne an die Kriegsgefangenen erinnert:
 „Die Heimkehrer wurden mit Gleichgültigkeit empfangen, ohne jegliches Interesse oder Anerkennung ihrer Opfer und sie fühlten sich erniedrigt gegenüber den Fahnenflüchtigen, die nur an ihre Karriere dachten und gegenüber den Partisanen, denen ausschließlich die Rolle der politischen Erneuerung zukam, und nicht die der Niederlagen und Enttäuschungen.“[33]

Bereits die wenigen Fotos, die unmittelbar nach der Heimkehr gemacht worden sind, lassen erkennen, dass das Bild des Kriegsgefangenen ein anderes war, als das des Partisanen. Die ausgezehrten und verwirrten Gesichter drückten Fremdheit, Leiden  und Angst aus. Es handelte sich dabei nicht um einen gewollten und gesuchten Gesichtsausdruck, wie ihn die Partisanen auf ihren Fotos zu erzeugen versuchten, sondern eher um einen Eindruck von jemanden, der sich selbst nicht erkennen will und auch nicht kann. Die Bildnisse fixieren die Zeichen der Mutationen. Mit dem Charakter der Aufnahmen nach Beendigung des Konfliktes geht auch ihr öffentlicher Gebrauch einher. Das Bildnis des Partisanen wird zur dominierenden Figur des öffentlichen Lebens, woraus das patriotische Paradigma entsteht.[34]

Doch das Schweigen der Internierten wurzelt vor allem in ihren Erinnerungen. Sie mussten für eine zu lange Zeit unter den unmenschlichsten Bedingungen ihr Dasein fristen. Durch dieses gezwungene Zusammenleben nahm ein Egoismus überhand, und ließ, laut Dragoni, die altruistische Komponente des menschlichen Charakters verschwinden. Jeder von ihnen versuchte diese schreckliche Periode für sich zu behalten. Aus Angst nicht verstanden zu werden vermied man es, anderen davon zu erzählen. Die Feststellung, dass sich die ehemaligen Internierten nicht gerne an die Zeit der Gefangenschaft in Deutschland zurückerinnern wollten, ist durch die von ihnen verfassten Schriften eindeutig zu belegen. Im übrigen ist dieser Wunsch des Schweigens auch dadurch zu erklären, dass Menschen dazu neigen sich im Laufe der Zeit nur an die glücklichen Momente zurück zu erinnern, und die schlechten Erfahrungen unbewusst zu verdrängen.

 Dragoni spricht in seinem Tagebuch von vier Faktoren, die für das unerträgliche Leiden verantwortlich waren. Als ersten nennt er die quälende Frage um den Beitritt zur Republik von Salò, die alle Internierten für 19 Monate beängstigte. Den zweiten Faktor  sieht Dragoni im Mangel an Lebensmittel, der für ihre Verrohung verantwortlich war. Um dem quälenden Hunger zu stillen, war man letzten Endes zu jedem Kompromiss bereit, um sich irgendeinen Unterhalt einzuheimsen. Diese Verrohung begleiteten Alpträume, in denen sich die Unsicherheit des nächsten Tages, die Furcht vor dem Zusammenbruch ausdrückten. Dieser Umstand machte ein Zusammenleben unmöglich, denn bei der Verteilung der Suppen und Lebensmittel war einer des anderen Feind. Die Internierten befanden sich in einem ständigen  Kampf, niemand konnte dem anderen vertrauen.

Der Internierten wurde praktisch von allen verlassen, denn das Internationale Rote Kreuz konnte nicht helfen. Die Menge an Lebensmittel, die die Republik von Salò schickte, reichte bei weitem nicht aus, und die Stimme des Königreichs im Süden konnte im Grunde nie wahrgenommen werden. Die italienischen Internierten fühlten sich dem Feinde vollkommen ausgeliefert. Sein Heimatland gab ihm keine Hoffnung, und eine Flucht war durch die Anwesenheit des Feindes in der Heimat, ohnehin undenkbar. Ein weiteres Motiv für das Schweigen der Internierten resultiert aus den unvorstellbar schrecklichen hygienischen Verhältnisse, denen sie Monate hindurch ausgesetzt waren. In den Baracken, in denen teilweise von bis zu 300 Männern hausten, und in denen nie Stille herrschte, gab es keine Möglichkeit zur Erholung. Ein Bett musste mit bis zu 3 Personen geteilt werden. Es fehlte ausreichende Wasserversorgung, eine Pumpe sollte für Tausende von Kriegsgefangenen reichen.[35]

Das Zusammenspiel dieser verheerenden Umstände hatte eine derartig konditionierende Wirkung auf die Internierten, die sich im Schweigen des Großteils der Zurückgekehrten unmittelbar danach ausdrückte. Das Zusammenleben auf engstem Raum im Lager für mehr als 19 Monate brachte die Verrohung der Insassen mit sich, die menschliche Würde wurde vollständig ausgelöscht. Niemand der Opfer wünschte über diese Demütigungen zu sprechen.



Das Schweigen als Konsequenz totalitärer Institutionen:

Konzentrationslager versus Lager der italienischen Militärinternierten



Konzentrations- und Arbeitslager werden in der Soziologie als „totalitäre Institutionen“ bezeichnet. Erving Goffman war einer der Ersten, der sich mit diesem Thema auseinandergesetzte. Dieser von ihm geprägte Terminus beschreibt einen Wohnort, oder einen Gruppenarbeitsplatz, an dem Personen, die aus der Gesellschaft für eine gewisse Zeit ausgeschlossen werden, sich in einer gemeinsamen Situation befinden, und einen Teil ihres Lebens in einem streng geregelten Regime verbringen. Jede Angelegenheit ihres Lebens steht unter autoritärer Aufsicht. In totalitären Institutionen wird den Insassen jeglicher eigene Lebensbereich verweigert. Zusätzlich werden von den Autoritätspersonen alle Phasen des Arbeitstages genau vorgeschrieben, und die Tätigkeiten der Internierten in einem rationalen Plan vereinigt. Goffman bezeichnet totalitäre Institutionen als Zwitterorganisationen, da es sich sowohl um formale Institutionen als auch Wohn- und Lebensgemeinschaften handelt. Ein Arbeitslager wird deshalb als totalitäre Institution bezeichnet, die Grundmotivation eines derartigen Lagers besteht in der Rationalität ihrer Organisation.[36]

Um jedoch diesen Idealtypus einer totalitären Institution besser zu charakterisieren, muss man von der Annahme ausgehen, dass der Mensch in der gegenwärtigen  Gesellschaft dazu tendiert, seine täglichen Tätigkeiten wie schlafen, arbeiten, vergnügen etc, an verschiedenen Orte zu verbringen, ohne jegliche autoritäre Vorschriften oder rationale Schemata. Das Hauptcharakteristikum von totalitären Institutionen ist hingegen der Bruch dieser Barrieren, die diese Lebensbereiche trennen. Die Insassen werden an einem einzigen Ort zusammengefasst, und unterliegen hier einer strengen autoritären Kontrolle. In den meisten Fällen befinden sie sich im engen Kontakt mit ihren Kollegen. Das Hauptcharakteristikum ist die Zerstörung der Identität der Personen durch den Eintritt in eine totalitäre Institution. Man läßt ihr seine aktiven Rollen, hier vor allem den freien Bezug mit der Umwelt, vergessen, und konstruiert eine Barriere zwischen dem Internierten und der Außenwelt. Neben den materiellen Barrieren, wie zum Beispiel Stacheldrähte, wird vor allem eine kommunikative durch den Entzug aller Notizen der Welt außerhalb der Institution, und dem Erschweren und Zensurieren der internen Kommunikation erzeugt. Weitere Verluste und Deformierungen der eigenen Persönlichkeit werden durch die charakteristische Aufnahme erzielt. Es handelt sich dabei um das Kahlscheren der Köpfe, die ständig gemeinsame Dusche, der Entzug aller Habseligkeiten, die Verteilung einer Uniform und einer eigenen Nummer, etc. Die Insassen einer totalitären Institution haben, wie auch in unserem Falle die Internierten, den Charakter von Objekten, die nach den administrativen Richtlinien geformt und abgestumpft werden müssen.[37]

B. Bettelheim prägte den Begriff der „Extremen Situationen“, welche charakteristisch für totalitäre Institutionen sind und zur völligen Transformation der Persönlichkeit führen. Die ersten Analysen vom menschlichen Verhalten in extremen Situationen stammen aus den sechziger Jahren: Ziel war es, herauszufinden und zu verstehen, was ein Aufenthalt in einem Konzentrationslager für ein Individuum bedeutet, und in welcher Weise diese Erfahrung die Persönlichkeit beeinflusst. Konzentrationslager hatten die radikale Mutation der menschlichen Persönlichkeit zum Ziel, um nützlichere Untertanen für den Staat zu produzieren. Bettelheim teilt den Prozess dieser Transformation in zwei getrennte Stadien. Das Erste stützt sich auf den anfänglichen Schock, der durch die Gefangennahme, den Transport in Viehwaggons und den ersten Eindrücken in den Lagern verursacht wird. Das zweite Stadium ergibt sich durch die Anpassung an die Lebenskonditionen des Konzentrationslagers. Der Prozess der Persönlichkeitsveränderung verläuft proportional zur Veränderung der subjektiven Wahrnehmung der Internierten. Es kann als eine Art Identifikation der Insassen mit dem Leben im Lager bezeichnet werden, die Opfer sehen sich nun als Teil des Lagers.[38]

Diese Ausführungen zu den Vorgangsweisen in totalitären Institutionen, hier am Beispiel der Konzentrationslager, sollen dem besseren Verständnis der Konsequenzen nach dem endgültigen Ausscheiden der Insassen dienen. Man darf nicht außer Acht lassen, dass es sich bei den Lagern der italienischen Militärinternierten nicht um Konzentrationslager handelte, sondern ihre Lager als Stalag und Oflag bezeichnet wurden.  Sie wurden im Vergleich unter weniger harten Bedingungen als die meisten Konzentrationslager geführt wurden. Die Analysen von Aufenthalten in extremen Situationen können aber helfen, das Verhalten der italienischen Militärinternierten nach ihrer Rückkehr besser zu begreifen, das von Zeitzeugen nach ihrer Heimkehr als verroht, abgehärtet und unsensibel beschrieben wurde.

Die Desensibilisierung der Insassen gegenüber jeglichen Gefühlsregungen war Teil der anfänglichen Therapie in den Konzentrationslagern. Gleich nachdem die Gefangenen im Lager eingetroffen waren, wurden sie unerträglich brutalen Situationen ausgesetzt. Zum Beispiel wurden sie gezwungen, mit anzusehen wie ein Gefangener von der SS zu Tote geprügelt wird. Oder sie wurden mit den erschreckenden Arbeitsgruppen konfrontiert, die aus Männern bestanden, die mit starrem Blick und mit Wunden bedeckt teilnahmslos an ihnen vorbei marschierten. Solche Szenen sollten im Laufe der Zeit für alle Gefangenen Gewohnheit werden. Es sollte nicht nur von Beginn an jede Sensibilität der Insassen gebrochen werden, sondern vor allem jedes Gefühl von Mitleid und Erbarmen abgetötet werden, um somit die Solidarität unter den Gefangenen zu eliminieren. Man bezeichnete diesen Prozess als „akute Entpersonalisierung“[39], mit dem Ziel der Trennung von Objekt und Subjekt. Die Sensibilität sollte automatisch gelöscht werden.[40]

Solomon bezeichnet diesen Prozess als „sensual deprivation“[41]. Studien zu diesem Phänomen haben gezeigt, dass der menschliche Organismus für seine normale Entwicklung im Lauf seiner Existenz, eine bestimmte Anzahl von Sinnesinformationen erhalten muss, um ein adäquates Verhalten in seiner Umwelt entwickeln zu können, egal ob in der Kindheit oder auch später. Eine ausgeglichene Stimulation durch die Umwelt erzeugt im Individuum den natürlichen Habitus eines menschlichen Seins. Jede zu hohe Abweichung der Einflüsse provoziert ein Ungleichgewicht, das sich negativ auf den Zustand der betroffenen Person auswirkt, aber in einem adäquaten Zeitraum wieder behoben werden kann, wenn die sensorielle Aufnahme nicht zu lange ausbleibt. Im schlimmsten Fall kann diese Störung aber irreversible Folgen haben, ausschlaggebend dafür ist die Länge und die Intensität des Ausbleibens der Sinnesempfindungen.

Sowohl im Falle des Ausbleibens, als auch bei Überlastung, kommt es zum „Informationsstress“[42]. L. Martin geht davon aus, dass dieser psychologische Stress, der in den Konzentrationslagern erzeugt worden war und den der Organismus nicht bewältigen konnte, zu einer Reaktion des Dauerstresses führte, der sich letzten Endes durch psychosomatische Krankheiten äußerte.[43]

Negative Auswirkungen zog auch der Verlust des eigenen Namens und die Zuteilung einer Nummer nach sich. Diese Vorgangsweise der Auslöschung eines persönlichen Attributes stellt einen weiteren Degradierungsfaktor dar. Der Großteil der Internierten entwickelte angesichts dieser Behandlungsmethoden, die ihre Existenz auszulöschen versuchten, einen Minderwertigkeitskomplex. Bei den Überlebenden der Konzentrationslager ließen sich Symptome wie chronische Spannungszustände, Depressionen und Angstzustände feststellen, begleitet von Schlafstörungen und Alpträumen. Viele der Überlebenden klagten über Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schwindelzustände, generelle Nervosität und übermäßiges Schwitzen. Eines der typischen Symptome waren chronische Angstzustände, die aus einer vergangenen oder gegenwärtigen Konfusion zu erklären waren, und auf einer unerträglichen Erfahrung basierten.

Diese Konsequenz wird sehr deutlich, wenn die Heimkehrer, einmal ins normale Leben reintegriert, sehr ängstlich auf verschiedene Motive reagierten oder häufig von Themen träumen, die sich auf Erlebtes im Lager beziehen. Weiters konnten auch Störungen des Intellektes nachgewiesen werden. Hier ist vor allem die Amnesie oder auch Hyperamnesie zu erwähnen, aber auch zeitliche Konfusionen sind nicht auszuschließen.[44]

Diese Symptome sind Konsequenzen der traumatischen Erfahrungen und Torturen in den Konzentrationslagern, die eine Auslöschung der personellen Identität verursacht haben. An diesem Punkt ist es wichtig, genauer auf die Unterscheidung zwischen den Bedingungen der Konzentrationslager und denen der Lager der italienischen Militärinternierten einzugehen. Andrea Devoto greift bei seiner Analyse der psychologischen Belastung der italienischen Militärinternierten auf Stephen D. Wesbrook zurück, der sich eingehend mit Militärsoziologie beschäftigt. Bei der Erklärung des Verhaltens der I.M.I. in den Lagern ist vor allem auf die Theorie der Kohäsion in Primärgruppen zu verweisen. Die Mitglieder einer Gruppe tendieren dazu, in Stresssituationen immer geschlossen zu bleiben, wobei sich diese Kohäsion nach dem gemeinsamen Überwinden solcher Situation noch stärker zeigt. Bei externer Bedrohung nimmt die Kohäsion zu, wenn die Gefahr von allen Gruppenmitgliedern gleich stark verspürt wird. Um in der Gruppe zu bleiben, muss der Vorteil größer sein als das Verlassen der Gruppe. Devoto kommt bei seiner Studie zum Schluss, dass im Falle der I.M.I. hauptsächlich diese Gruppenkohäsion und die Zustimmung zu den Regeln der Lager überwog. Das Phänomen steht im völligen Kontrast zu der Situation eines Vernichtungslagers, in dem der Mitgefangene zum größten Feind wurde. Die Symptome wie Gleichgültigkeit, Apathie, sich gehen lassen, Rebellion etc., wie sie aus den Vernichtungslagern bekannt sind, trafen deshalb im Falle der italienischen Militärinternierten nicht zu. Zwar litten sie unter Stresssituationen, die durch die abnormale Situation nach dem Waffenstillstandsabkommen am 8. September 1943 bedingt wurden, doch der Prozess der Eliminierung ihrer Identität blieb aus.[45]

Laut der Psychologin Camila Albini Bravo war der Aufenthalt für die Opfer der Vernichtungslager eine traumatische Erfahrung, die über die Grenzen menschlicher Verkraftbarkeit hinaus ging. Für die Militärinternierten war der Aufenthalt in den Lagern hingegen eine extrem schmerzhafte Erfahrung, die in diesem Fall „an“ die menschlichen Grenzen ging. Die Erklärung dafür liegt in der Tatsache, dass die italienischen Militärinternierten ihre Identität aufrechterhalten konnten. Einerseits blieb bei ihnen der anfängliche Schock aus, andererseits konnte der Prozeß der Entpersonalisierung durch die milderen Umstände abgewehrt werden. Die Militärinternierten waren sich dem Sinn ihres Aufenthaltes bewusst, eine Wahl, die sie getroffen hatten, und mit der sie ein Ziel verfolgten. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der Familie blieb die ganze Zeit hindurch aufrecht. Bei diesem Argument stützt sich Bravo auf die Tatsache, dass der Abtransport der italienischen Militärinternierten einem Losreißen von der Familie gleichkam, beim Großteil der Insassen der Konzentrationslager  hingegen ein Zerreißen der Familie darstellte. Dieser Unterschied ist ausschlaggebend für die weitere Entwicklung in den Lagern, denn ein Mensch ohne Hoffnung, Aufgabe und Ziel verliert unter den gegebenen Umständen seine Würde und Identität.

Die italienischen Militärinternierten konnten ihre Würde aufrechterhalten, indem sie bewusst ein „Nein“ zu Mussolinis Republik und der Kollaboration mit den Deutschen vertraten. Die kollektive Gewissheit des Sinnes ihres Tuns trug dazu bei ihre Leiden ertragen zu können. Die Militärinternierten konnten sich untereinander austauschen und schafften es sich in den Lagern zu organisieren, indem sie Tauschbörsen einrichteten, Diskussionsrunden abhielten etc. Die Handlungen trugen notwendig                              zur Sinnstiftung bei. Durch die Konservierung der Persönlichkeit war die Konsequenzen ihres Aufenthaltes in den Lagern weniger traumatisch als für die Überlebenden der Konzentrationslager. Nichts desto trotz litten auch sie nach ihrer Rückkehr an den Folgen dieses menschlichen Alptraumes.[46]

Ehemalige Internierte schildern ihre Geschichten folgendermassen:
Nach 20 Jahren habe ich erzählt was mir widerfahren ist, meine Mama ist gestorben, ohne es zu wissen, meine Frau wollte nicht mehr bei mir schlafen, ich träumte in der Nacht, ich hatte Alpträume, ich habe sie gebissen, dann als ich darüber sprechen musste, sind auch die Alpträume nicht wieder gekommen. Niemand glaubte mir, was passiert war.[47]

„In den ersten Tagen nach meiner Heimkehr fühlte ich mich wie verblödet, ich schaffte es nicht mich ins normale Leben einzufügen, ich hatte sehr wenig Lust mit den anderen Leuten zu kommunizieren, aber auch in der Familie war ich wenig gesprächig. Meine Mutter, wenn sie mich so sah, fragte mich oft, was nicht paßt. Ich antwortete ihr immer ausweichend, ich versicherte ihr, sie sollte sich keine Sorgen machen, und das mit der Zeit alles wieder so sein würde wie früher. In Wahrheit war mein Verhalten psychologisch bedingt, ich war einfach so verwirrt im Kopf, dass ich meine Gedanken nicht ordnen konnte. In den letzten Monaten meiner Gefangenschaft sind zu viele Sachen auf einmal passiert, die mein Leben erschütterten, materiell aber auch sentimental. Ich war jung (23) und meine Kräfte hatten positiv reagiert, auch mit einigen Schwierigkeiten.

Die Nächte verbrachte ich schlaflos und wenn ich es schaffte einzuschlafen, träumte ich ständig davon, allein eine lange Allee hinaufzulaufen, wo an den Rändern Bäume standen, die ohne Leben waren, und zwischen denen ein komisches weißes Licht ohne Widerschein noch Schatten durchschien.
Nach dieser Reise fand ich mich, ohne mir bewußt zu sein wie, in einem Zimmer ohne Fenster und Türen eingeschlossen wieder, und ich versuchte auf jede Weise hinauszukommen, indem ich mit den Händen versuchte die glatten Wände hinauf zu kriechen, um etwas zu suchen, dass mir Hoffnung geben könnte. Es war, als würde ich mich selbst in einem Grab eingeschlossen sehen, wo auch das gleiche eintönig weiße Licht herrschte. [...] Dieser Traum verfolgte mich für Monate.“[48]

Ein Ergebnis von der Studie von Nicola Labanca zur Wiedereingliederung von 92 ehemaligen Militärinternierten besagt, dass die Einsamkeit ein immer wiederkehrender Teil der Erzählungen der Heimkehrer ist. Hier spricht Labanca vor allem von den Schwierigkeiten der Internierten, sich den anderen mitzuteilen und verständlich zu machen.[49] Devoto verweist in diesem Zusammenhang auf die Einsamkeit, deren Wurzeln noch in den Lagern liegt. Für ihn ist die Einsamkeit des Gefangenen ein Charakteristikum des Stadiums der Entpersonalisierung. Devoto spricht hier von vier Formen der Einsamkeit: der Familiären, Sozialen, Umweltbedingten und Kommunikativen. Den familiären Zusammenhang sieht er in der brutalen Trennung von den Verwandten beim Eintritt ins Lager, den sozialen, weil das Individuum generell seine gesellschaftliche Umgebung verliert. Umweltbedingte Einsamkeit ergibt sich aus dem Grund, da der Gefangene Teil einer Arbeits- oder Barackengruppe ist, und sich deshalb allein in Mitten von Personen verschiedener Herkunft und verschiedener Gewohnheiten befindet. Schließlich bleibt die kommunikative Einsamkeit, die aus dem Abgeschnittensein von der Außenwelt resultiert.[50] Dieses Gefühl der Einsamkeit in den Lagern hat mit Sicherheit auch Einfluss auf den moralischen Zustand der Heimkehrer bei Ankunft in den Familien.

Viktor Frankl, Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz, beschreibt in seinem Buch „Un psicologo nei lager“ diese Situation des Schweigens bei der Rückkehr sehr treffend. Über die moralische Deformation hinaus, die den Menschen nach seiner Freilassung bedroht, verschlimmerten, so Frankl, zwei fundamentale Erfahrungen die Situation: zum einen die Verbitterung und zum anderen die Enttäuschung des Heimkehrers. Viele verschiedene Phänomene des öffentlichen Lebens der Gesellschaft, in die der Ex-Internierte zurückkehrt, rufen in ihm Verbitterung hervor. Wenn ein Mensch, nachdem er so extrem gelitten hat, nach Hause zurückkehrt, und mit ansehen muss, wie die Leute ihm nur ein Schulterzucken zugestehen, dann provoziert das Verbitterung, so Frankl. Dieser Mensch beginnt sich zu fragen, welchen Zweck dieses Leiden hatte. Wo immer er auch hinkommt, muss er hören, dass auch die Daheimgeblieben großes Leid erfahren haben. Flankl schreibt, dass es sich in diesem Moment nicht mehr um eine tiefe Abneigung auf Grund der Oberflächlichkeit und der Hartherzigkeit, dem Nächsten gegenüber handelt, sondern, dass sich der Ex-Internierte in diesem Moment der Enttäuschung nur verstecken will, um nichts vom Rest der Welt zu hören. Der Mensch, so Frankl, fühlt sich vom Schicksal verlassen. Nach jahrelangem Glauben, jedem möglichen Leiden widerstehen zu können, muss nun bei der Rückkehr festgestellt werden, dass das Leiden ein Fass ohne Boden ist, dass kein letzter Grad des Leidens existiert. Man kann noch tiefer sinken, immer weiter nach unten, so Frankls Worte.[51]

Die Beschreibung der Rückkehr aus dem Konzentrationslager von Viktor Frankl soll bezugnehmend auf die heimgekehrten italienischen Militärinternierten dazu dienen, ihr Gefühl der Enttäuschung und der Sprachlosigkeit besser verständlich zu machen. Auch wenn im Fall der Internierten die Intensität ihrer Gefühle weniger überwältigend waren, als in Frankls Ausführungen, dürfen sie trotzdem nicht unbeachtet gelassen werden. Die Worte von Carlo Lazzeri verdeutlichen sehr gut diese Tatsache:
„Die Beachtung der Leute blieb völlig aus, man fand nur Gleichgültigkeit. Niemand hatte verstanden was wir gelitten haben, denn vor allem in Volterra, ein sehr linkes Ambiente, sind die meisten Kommunisten, und deshalb existierten für sie nur die Partisanen. Uns gegenüber Gleichgültigkeit. [52]

 

 

 8.       Die gesundheitlichen Folgen


In erster Linie waren die gesundheitlichen Schäden psychologischer Natur, denen unmittelbar nach der Rückkehr schwer Abhilfe verschafft werden konnte. Generell klagten die Heimkehrer über nervöse Störungen und auch über die fehlende Initiative die sozialen Beziehungen wieder aufnehmen zu wollen. Hinweise zu diesem Thema sind bereits in einigen Zeugenaussagen der vorhergehenden Kapitel enthalten. Diese psychologischen Erkrankungen hatten oft längere Verläufe, bis zu Jahren. Sie erschwerten die Wiedereingliederung maßgeblich, sei es nun in affektiver Hinsicht oder in Bezug auf das Arbeitsverhältnis. Zu diesen mentalen Belastungen summierten sich die physischen Leiden, die auf die Entbehrungen und Anstrengungen während ihres Aufenthaltes in den Arbeitslagern zurückzuführen waren. Oft waren es Krankheiten, die erst nach Jahren zum Vorschein kamen und deshalb von Seiten der Gesundheits- und Militärämter der Republik nicht als Folgen der Kriegsgefangenschaft akzeptiert worden waren. Solche Ignoranz verbitterte und isolierte zusätzlich die Ex-Internierten. Labanca beklagt, dass es leider keine statistische Aufbereitung der Krankheitsfälle gibt, denn so wäre es offensichtlich, wie die Erfahrung der Gefangenschaft die ehemaligen Internierten von den anderen Kriegsteilnehmern unterscheidet.[53]

Francesco Volante spricht bereits im Jahr 1965 davon, dass die krankhaften Konsequenzen einer Kriegsgefangenschaft sehr schwer zu erkennen, zu verstehen und  zu behandeln sind. Sie werden von einer Reihe von Faktoren, auf die jeder Mensch unterschiedlich reagiert, beispielsweise Streß, Körperbeschaffenheit, Klima, Ernährung, Krankheiten, bestimmt. Volante meint, um die Pathologie der Internierung in seinem ganzen Ausmaß zu erkennen, sei es notwendig Beobachtungen zu vergleichen, Dokumentationen zu sammeln und zu diskutieren, um schließlich Ergebnisse formulieren zu können. Das Ziel müsste es sein, aus der Internierung resultierende Krankheiten die nötige therapeutische, aber auch rechtliche Unterstützung zukommen zu lassen, auf die Anspruch besteht, so Volante. Volantes erstes Argument bezieht sich auf die Herz- und Blutgefäßerkrankungen, hier vor allem die Arteriosklerose mit all ihren Konsequenzen. Ausschlaggebend für ihre Entstehung sind Infektionskrankheiten, Nephrosen, chronische Eiterungen, Durchfälle, und psychische Traumata, neben neurovegetativen Störungen, die in vielen Fällen bei der Wiedereingliederung ins normale Leben auftraten. Betroffen waren vor allem weniger ausgeglichene Charaktere, so Volante. Infektionskrankheiten, die sehr häufig in den Lagern auftauchten und unzureichend versorgt und geheilt wurden, können sich nach Jahren erst in verschiedensten Krankheiten manifestieren. Ganz speziell muss hier auf die Tuberkulose verwiesen werden, die in den meisten Fällen erst nach der Heimkehr akut wurde und laut Volante vor allem jüngere Männer betraf.

Die zweit häufigsten Krankheiten betrafen den Verdauungsapparat und die Leber, hier besonders Leberzirrhosen, die auf Infektionskrankheiten wie Malaria oder Hepatitis zurückzuführen sind. Weiters waren Gastritis- und Zwölffingerdarmgeschwüre sehr weit verbreitet, wofür ein neurovegetatives Ungleichgewicht verantwortlich war, das durch Stresseinwirkung, abnormale Histaminproduktion und alle möglichen Mängel an Spurenelementen und Vitaminen verursacht wurde. Gastritis war sehr stark verbreitet, und konnte in den meisten Fällen nicht geheilt werden. Symptome wie Sodbrennen, Verdauungsschwierigkeiten, Kopfschmerzen, Schläfrigkeit blieben noch nach Jahre als Spätfolgen zurück. Während der Gefangenschaft wurde kaum jemand von chronischen Durchfall verschont. Die meisten Formen führten sich auf den Ernährungswechsel in der Gefangenschaft zurück, da die Lebensmittel sehr fett- und proteinarm, aber reich an unverdaulicher Zellulose waren. Die unmittelbare Umstellung auf reichhaltige Kost nach der Heimkehr verursachte weitere Probleme. Einige Gefangene bezahlten diese Überforderung ihres Verdauungstraktes mit dem Leben, so Francesco Volante. In den meisten Fällen konnte auch ein starker Parasitenbefall im Darm nachgewiesen werden, ausgelöst durch Verzehr von unreinen oder rohen Lebensmittel. Noch schlimmer war jedoch die Tatsache, dass Jahre nach der Rückkehr bei einem sehr hohen Prozentsatz der ehemals Internierten bösartige Tumore an den Organen auftraten, die auf fehlende prophylaktische Maßnahmen in den Kohlengruben, Mienen, etc. zurückzuführen waren. Krankheiten des Bewegungsapparates wie Rheuma, Arthritis etc. stiegen in diesen Jahren durch die Leiden der Deportierten  stark an.

Bisher wurden nur die am häufigsten aufgetretenen Krankheiten genannt, die noch von einer Reihe anderer ergänzt werden können. Die Befreiung aus den Lagern brachte eine Besserung der körperlichen Krankheiten mit sich, doch oftmals verschlimmerte sich der psychische Zustand. Nicht immer wurde die Heimkehr zu einem freudigen Erlebnis, gerade dann nicht, wenn Familienangehörige während der Abwesenheit verstorben waren.[54]

Es gezeigte sich, dass die Symptome von verschiedensten Krankheiten auch in jedem Moment nach der Befreiung auftreten konnten, und dass man deshalb keine zeitliche Grenze für sie festsetzen kann. Aufgrund fehlender koordinierter Untersuchungen der Krankheitssymptome wurde dieses Faktum im Falle der italienischen Militärinternieten nicht berücksichtigt. Damals fehlte es an Dokumentationen zu Auftauchen und  Häufigkeit der Krankheiten, die die Gefangenschaft verursacht hatte. Eine vollständige medizinische Kontrolle der körperlichen Konditionen der ehemaligen Internierten im Moment ihrer Rückkehr wurde verabsäumt. Grund dafür waren einerseits die zeitlichen Differenzen ihrer Heimkehr, andererseits lag es an der schlechten Ausstattung, bedingt durch die politische Krise und der prekären wirtschaftlichen Situation. Eine gerechte Anerkennung der späteren Folgekrankheiten durch Schadenersatzleistungen oder Pensionierung blieb deshalb aus.[55]




9.                   Die Identität der Kriegsheimkehrer



Die Rückkehr der Soldaten in ihre Heimat, in ihre Familien, an die Arbeitsplätze – mit einem Wort die Reintegration – wurde zu einem entscheidenden Moment der Nachkriegsgesesellschaften. In diesem Moment und in den darauffolgenden Jahren entstanden die grundlegenden Charakteristiken der Heimkehrer. Einige Millionen Männer kehrten von den verschiedenen Kriegsschauplätzen aus ganz Europa und der Welt zurück. Die Partisanensoldaten fühlten sich als Sieger, die Soldaten der Republik von Salò hingegen akkumulierten deren Groll und Hass.  Diese negative Einstellung beeinflusste nachhaltig auch den Charakter ihrer Vereinigungen. Vom Standpunkt der realen Möglichkeiten der Besatzung und der Wiedereingliederung war jedoch den Partisanen ihr Verdienststatus, den sie sich erhofften, keineswegs gesichert. Die Rückkehr der Soldaten aus dem Königreich des Südens war etwas spezieller, denn sie bekamen die Nachwirkungen der zweideutigen Natur ihres Militäreinsatzes zu spüren.  Einerseits jubelten sie nach dem Ende des Konfliktes, der sie endlich ihre Heimreise antreten ließe, andererseits wurden sie als Aushilfsreserven der britischen und amerikanischen Streitkräfte eingesetzt, das von militärischer Sicht aus betrachtet zwar nicht besonders gefährlich, aber hart und wenig ehrenvoll war. Dieser Grund ließ die Nation und die militärischen Institutionen schnell ihr Schicksal vergessen, so Nicola Labanca in seinen Ausführungen zu den verschiedenen Kriegsgefangenschaften und ihre Folgen.[56]

Er betont die sehr verschiedenartigen Erfahrungen und Gedanken innerhalb der Gruppe der Kriegsgefangenen. Wie in den vorhergehenden Kapitel schon erwähnt, teilten sich die Kriegsgefangenen der Alliierten in „Cooperatori“ und „Non-cooperatori“, zusätzlich alternierten die Ort ihrer Festhaltung. Es gab große Unterschiede zwischen den milden Bedingungen in den Vereinigten Staaten und den der britischen Lager in Indien oder den französischen Camps in Algerien, wo harte unmenschliche Zustände herrschten. Auch unter den Militärinternierten in deutscher Hand waren die Erfahrungen  ganz verschiedener Natur. Es bestanden große Unterschiede zwischen den Soldaten und den Offizieren, so Labanca. Die letzteren wurden zum Fasten und zur Untätigkeit gezwungen, während die Soldaten sofort zur Arbeit gezwungen wurden, und einer inhumanen Ausnutzung ihrer körperlichen Konditionen unterworfen waren.

Labanca weist darauf hin, dass die Unterschiede der Kriegsgefangenschaft zwar nicht automatisch zu Unterschieden in der Nachkriegszeit führten, doch sollte dieser Aspekt nicht unterbewertet bleiben. Er stützt sich dabei auf die Tatsache, dass unterschiedliche Gefangenschaften erstens verschiedene Chronologien der Rückwege ins Heimatland erzeugen, und zweitens die Gefangenschaft die körperliche Kondition der Männer bedrohte, wobei diese Bedrohung je nach Behandlung unterschiedlich stark war. Die Psychologen, so Labanca, die das Bewusstsein der Gefangenen untersuchten, stießen auf unterschiedlich starke Traumata, deren Manifestationsgrad je nach den Erfahrungen verschieden war. Obwohl die Konditionen der Verrohung durch den Charakter der totalitären Institution allen gemein waren, ist die Stärke der Totalität ausschlaggebend für ihre Konsequenzen. Dies führte, laut Labanca, nun dazu, dass sich bei der materiellen und symbolischen Ressourcenverteilung der Nachkriegszeit verschiedene Typen von Gefangenen Vorteile verschaffen konnten. Labanca kommt zum Schluss, dass die Identität nicht nur durch die persönlichen Erfahrungen erzeugt, sondern auch durch die politische und staatliche Handlung geformt und transformiert wurde. Durch diesen Umstand wirkten diese Ressourcenverteilungen gleichzeitig als Verstärker und Konservatoren der geschaffenen imaginären Gemeinsamkeiten.[57]

Der zweite Weltkrieg erzeugte jedoch keine so starke Identitäten und kollektive Bewegungen wie es nach dem Ersten Weltkrieg der Fall gewesen war. Die Befürchtungen waren groß, da nach dem Ersten Weltkrieg der Faschismus, getragen von einer starken Basis ehemaliger Soldaten, an die Macht gekommen war. Man kann von einer Entpolitisierung des „Reducismo“ sprechen, deren Folge eine geringe Aufmerksamkeit der politischen Parteien gegenüber dem Schicksal der Heimkehrer war.
Die besondere Konfiguration der italienischen „Gesellschaft der Heimkehrer“[58], so wie Labanca sie bezeichnet, veranlasste die liberale Politik der ersten postfaschistischen Regierungen dazu, der Gefahr eines Wiederauftauchens des Phänomens des „Combattentismo“ so gut wie möglich zu entgehen. Diese liberale Haltung beeinflusste laut Labanca die Formierung einer kollektiven Identität unter den italienischen Kriegsheimkehrern. Indem sich keine kollektive Identität entwickeln konnte, überwogen mit der Zeit differenzierte und mehrfache Identitäten, verursacht durch die Pluralität der verschiedenen „Rückkehrten“ [59].

Unter diesen unterschiedlichen „Identitäten“ befindet sich auch jene der ehemaligen italienischen Militärinternierten. Zum Verständnis der Entstehung ihrer Identität, die eine sehr schwache war, wie sich später herausstellen wird, ist es notwendig einige Vergleiche vorzunehmen. Die Identität ist ein soziales Konstrukt und kann nicht ohne Bezug auf ihre Umgebung entstehen, sondern wird durch die Beziehung und die Reaktion auf eine andere Wirklichkeit und andere Identitäten erzeugt. Die Identität einer Person, aber auch die einer Gruppe oder einer Organisation, ist nicht einfach da, sondern existiert für den Beobachter, der diese Identität als solche beobachtet.[60] Sozialwissenschaftlich gesehen hängt die Identität einer Person oder einer Gruppe in erster Linie mit der „Konstanz der Erwartungen“[61] zusammen, die sich auf diese beziehen, und die diese Person oder Gruppe auf sich zieht. Eine Identität konstituiert sich danach als eine bestimmte Form oder Konfiguration von gebundenen Erwartungen.[62] Dies erklärt, warum die liberale Politik der postfaschistischen Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg durch ihr im Vergleich zum Ersten Weltkrieg geringes Interesse an dem Schicksal der Heimkehrer das Entstehen einer starken Heimkehrer-Identität abwehren konnte.

Bistarelli greift bei der Bezeichnung der Gesamtheit der Heimkehrer auf J.L. Nancy zurück, der sie als eine „untätige Gemeinschaft“ sieht, da das Gedenken an die gemeinsamen Erfahrungen als Kämpfer sich ausschließlich auf der Ebene verschiedenster Vereinigungen vollzog. In diesem Sinn, so Bistarelli, kann man das Phänomen der Organisation in Vereinen als ein Produkt das aus Erinnerung, Gefühlen und Interessen bezeichnen. In der Form werden die positiven gefühlsmäßigen Neigungen der Soldaten in die Zeiten des Friedens transportiert und bilden dort den Zement einer starken affektiven Identifikation, die Solidarität und Verbundenheit untereinander hervorrufen, was von Seiten der Zivilbevölkerung aber völlig ignoriert wurde.  Diese Vereinigungen, ob nun die der Partisanen oder die der Soldaten, fungierten als Kanäle für Spannungen und stellten einen Ort dar, an dem sich die Identität des Einzelnen an eine soziale Beziehung knüpfen konnte.[63]







Die Identität der ehemaligen IMI



Die Identitätsbildung der ehemaligen italienischen Militärinternierten war im Vergleich zu den anderen Identitäten, die an eine Kriegsgefangenschaft gebunden waren, nie eine besonders starke. Generell kann man behaupten, so Labanca, dass die Identität  „Ex-Internato“  sich nie so stark manifestierte, als dass sie es geschafft hätte, alle anderen zu dominieren. Unter „andere“ werden soziale Identitäten verstanden, die auf den verschiedenen Merkmalen oder Charakteristiken einer Person basieren, wie zum Beispiel die regionale Zugehörigkeit oder der sozioökonomische Status, etc.. Angesichts des Prozesses der Identitätsbildung darf das Alter nicht außer Acht gelassen werden, denn auch wenn ihre kollektive Identität in den Jahren 1943 – 1945 stark war, spielen bei ihrem Überleben immer eine Reihe von Faktoren eine wichtige Rolle. Im Allgemeinen sind Identitäten an Erfahrungen gebunden, und da die ehemaligen Internierten zum Großteil junge Männer waren, wurde ihre Identität als „Ex-IMI“ mit der Zeit und dem Reifen ihrer Erfahrungen von anderen überlagert.

Labanca verweist deshalb darauf, da für die Masse der 700.000 Italiener, die von den Lagern zurückkehrten, die Identität des „Ex-IMI“ keineswegs konstant war, sondern im Laufe der Zeit Veränderungen unterworfen war. Dieses Phänomen gilt aber generell für jede kollektive, aber auch personale Identität, und darf daher in diesem Kontext nicht als charakteristisch verstanden werden. Der Evolutionsprozess wird von Labanca wie folgt beschrieben: Ihre kollektive Identität entstand mit ihrem gemeinsamen Schicksal, sie war für eine kurze Zeit sehr stark, doch schon bald nach ihrer Heimkehr verlor sie an Bedeutung. Nach einer Periode des Vergessens wurde sie letztendlich wieder entdeckt. Dieser Prozess vollzog sich immer parallel zum generellen politischen Klima des Landes. Ausschlaggebend für ihre Revitalisierung war der Wille ein kollektives Gedächtnis zu stabilisieren, das im ständigen Gegensatz zu den anderen Identitäten der „Gesellschaft der Heimkehrer“ stehen sollte.

Labanca verweist immer wieder auf die Tatsache, dass es ein Fehler wäre, die identitären Phänomene als ahistorisch zu sehen, denn gerade bei den  ehemaligen Militärinternierten ist dies gut dokumentierbar. Ihre Identität war während des Aufenthaltes in den Lagern stark, und erreicht mit ihrer Rückkehr den Höhepunkt.[64] Hier konnte nämlich das Problem der Kontinuität und Diskontinuität der Selbstsicht in der Gefangenschaft überwunden werden. Es ist offensichtlich, dass es während der Gefangenschaft keine Möglichkeit für die Internierten gab, Vergleiche mit anderen weiter entfernten Gefangenschaften anzustellen. Die Vergleiche konnten immer nur kurzer Hand mit den Gefangenen anderer Nationalitäten, die sich im gleichen Lager befanden oder mit den Barackenkameraden angestellt werden. Das sollte sich bei der Rückkehr ändern. Doch wie sich in der gemeinsamen Diskussion herausstellte, gab es kaum Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Kriegsheimkehrern, auch wenn alle Kriegsgefangene waren und sich nur der Ort ihrer Festhaltung änderte. Labanca sieht vom Gesichtspunkt der Subjektivität aus keine Ähnlichkeiten zwischen dem Fall Italien und anderer Gefangenschaften, dasselbe gilt auch für die verschiedenen italienischen Kriegsgefangenschaften selbst. Jede Gefangenschaft war einzigartig, und diese Einzigartigkeit konstituierte sich in ihrer spezifischen Kombination der Charakteristiken der Gefangenschaft. Seiner Auffassung nach war es unmöglich eine gemeinsame kollektive Identität der Kriegsheimkehrer zu stabilisieren, zu verschieden waren die Erfahrungen, auch wenn sie für ihre Umwelt alle gleich waren. Hier äußert sich der Konflikt zwischen Selbst- und Fremddefinition.

Labanca verweist auf die Aussagen der Kriegsgefangenen, in denen sie ihr Schicksal beschrieben. Viele betroffene Zeitzeugen betonten je nach Fall: „Ich bin Gefangener der Engländer gewesen“, oder: „Ich bin Gefangener der Deutschen gewesen“. Jedoch nur unter einigen dieser letzten war es leichter, eine Teilung zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmung zu bemerken. Vor allem dann, als sie gegenüber dieser weitverbreiteten Fremddefinition  (Gefangener der Deutschen) ihre eigene Identität „Ich bin Ex-Internierter“ zu verteidigen begannen.[65]

Unmittelbar nach der Rückkehr war die kollektive Identität der ehemaligen Militärinternierten sehr stark, was aber nur von sehr kurzer Dauer war, denn sie wurden von einer Vielzahl von anderen Gefühlen verdrängt. Besonders stark war der Wille zum Vergessen, der mit einer neuen Situation der Wiedereingliederung ins Zivilleben einherging, und so neue andere Identitäten erzeugte. Dieser Prozess führte in vielen Fällen soweit, dass die kollektive Identität der ehemaligen Internierten von den Protagonisten selbst nicht mehr wahrgenommen wurde. Labanca sieht darin die Verlagerung dieser Identität auf eine zweite oder dritte Ebene. Seiner Ansicht nach bedeutete das zwar nicht ihr völliges Verschwinden, da die personellen Erinnerungen regelmäßig, oftmals begleitet von Angstzuständen, in ihre Gedanken zurückkehrten. Im Lauf der Zeit bedurften die ehemaligen Internierten der Anerkennung ihrer Verdienste und materieller Zuschüsse, so Labanca, und deshalb kehrte ihre kollektive Identität nach Zeiten des Vergessens wieder zurück. Diesmal war sie stärker, und die Motivation war eine andere als in der Vergangenheit. Labanca geht davon aus, dass im Unterschied zu den anderen Sektionen der Kriegsheimkehrer, die kollektive Identität der Ex-Internierten viel labiler war.

Ein weiterer Faktor, der speziell die kollektive Identität der Ex-IMI nachhaltig beeinflusste, resultiert aus der liberalen Haltung des Staates ihnen gegenüber. Labanca verweist darauf, dass ihnen zwar einige Vorteile zugestanden wurden, doch handelte es sich dabei nie wirklich um wahre Entschädigungen zugunsten der gesamten Masse der ehemaligen Militärinternierten, sondern – zumindest aus der Sicht der Betroffenen –um Almosen, die zudem individualistisch gehandhabt wurden. Dieser Umstand machte eine Festigung der kollektiven Identität unmöglich. Nach Labanca war vor allem auch das chaotische und kleinkörperschaftliche italienische Welfare-System, dass in dieser Zeit entstand, unfähig, eine kollektive Identität zu erzeugen. Es ist aber auch nicht verwunderlich, dass vor allem die jungen Männer, die später Bürger der Republik waren, angesichts der geringen Anerkennung von Seiten der neuen Regierung, aufgehört haben sich als IMI zu fühlen. Ihre Ablehnung des Beitritts zur Republik von Salò hatte ihnen einen hohen Preis abverlangt, der besonders wichtig für die nationale Befreiung war.

Der Zivilgemeinschaft und den lokalen Netzwerken kam unmittelbar nach Ende des Konfliktes angesichts der geringen staatlichen Fürsorge eine bedeutende Rolle zu. Dieser Umstand vermehrte die Differenzierungen unter den Ex-Internierten und ließ die kollektive Identität immer mehr abschwächen, so Labanca.[66]

Die Vereinigung der Ex-IMI, A.N.E.I. (Associazione Nationale Ex Internati), die ihren Ursprung bereits in den Lagern hatte und unmittelbar nach der Heimkehr zu deren Interessensvertretung wurde, vertrat auf Schritt und Tritt ihre eigene Unparteilichkeit und den eigenen Vereinscharakter als Ex-Soldaten. Es war eine Entscheidung, die das genaue Gegenteil der Partisanenvereinigungen darstellte, aber nicht ungewöhnlich für eine Ex-Kriegsgefangenen-Vereinigung war. Jedoch bedeutete die Entscheidung zur Unparteilichkeit, dass die Vereinigung und die kollektive Identität als Ex-IMI. immer mehr mit der Welt der Waffenvereinigungen und des Militarismus in Verbindung gebracht wurde. Doch gerade von diesen Werten und Erfahrungen wollten sich die Ex-IMI objektiv entfernen, als sie ihr – auch politisches - „Nein“ zum Beitritt der Republik von Salò postulierten, so Labanca. Das bedingte auch eine sukzessive Abschwächung der  kollektive Identität der Ex-IMI. Außerdem begannen die militärischen Institutionen im Laufe der Zeit mit den Entschädigungen für ehemalige Kriegsgefangene zu geizen.[67] 

Die gemeinsame Erfahrung ist ein sehr wichtiger identitätsbildender Faktor, deshalb weil Identität auch immer über Kommunikation gebildet wird, das Soziale existiert nicht als Ding eigener Art, sondern als Prozess von Interaktionen, und dieser ist dann möglich, wenn die gleiche Sprache gesprochen wird oder die gleiche Erfahrung gemacht wurde. Dieses Bild der kollektiven Identität der italienischen Ex-Internierten besteht in seiner Substanz aus den verschiedensten persönlichen Geschichten. Die sozialen Konditionen, die ideologischen Neigungen, aber auch die Beziehungsnetze (Vereinigungen) modifizierten in unterschiedlichster Weise diese Vorstellung einer kollektiven Identität. Es darf daher nicht außer Acht gelassen werden, dass dieses kollektive Konstrukt, so wie auch jenes der anderen Heimkehrer des Zweiten Weltkrieges, seine eigene Formen und seine eigene Entwicklung hatte. Die Unbeweglichkeit der Vereinigungen kann deshalb über die Wechselhaftigkeit einer kollektiven Identität hinwegtäuschen.[68]



[1] Per  i lettori italiani. La Associazione ha sempre perseguito il contatto con il mondo accademico, sia italiano che straniero al fine di poter elevare sempre più il livello scientifico della propria attività editoriale. Oltre alla  collaborazione di professori universitari e ricercatori, si è entrati in contatti con giovani studenti laureandi che hanno accettato di sostenere tesi di laurea di interesse per l‘Associazione, ricevendo in cambio ogni sostegno scientifico possibile. Fra questi, una delle prime è stata l‘autrice di questo saggio, che è parte integrante della sua tesi. E‘ con vivo piaciere che  „ Approfondimenti“ ospita questo saggio, a signifcare che quando si vuole andare verso i giovani e a far conoscere gli eventi del 1943-1945, si agisce sul piano delle cose concrete.
[2] Vgl. Lops, Il Messagio degli IMI, S 91-92.

[3] Dragoni, La scelta degli I.M.I., S 353-362.
[4] Vgl. Giuntella, Vittorio. In: Vaenti. 1996. S 83.
[5] Giuntella, Vittorio. In: Vaenti, Il ritorno dei lager, S 83.
[6] De Bernard. In: Vaenti, Il ritorno dei lager, S 83.
[7] Vgl. Finati, Le giovani generazioni del Fascismo, S 308-311.
[8] Don Pasa, In: Dragoni, La scelta degli I.M.I., S 365.
[9] Vasari. In: Vaenti, Il ritorno dei lager, S 84.
[10] Vgl. Dragoni, La scelta degli I.M.I., S 365f.
[11] Vgl. Dragoni, La scelta degli I.M.I., S 368.
[12] Pizi, Abraham. Ex-Internierter, Zeugenaussage. In: Bertacchi, Il reinserimento die reduci, S 277.
[13] Magri, Franco. Ex-Internierter, Zeugenaussage. In: Bertacchi, Il reinserimento dei reduci, S 277.
[14] Pesenti, Vittorio. Ex-Internierter, Zeugenaussage. In: Bertacchi, Il reinserimento dei reduci, S 278.
[15] Vgl. Bertacchi, Il reinserimento dei reduci, S 280.
[16] Vgl. Sommaruga, No!, S 206.
[17] Anm.: Diese Tatsache muss auch bei der Interpretation der Subjektivität des Heimkehrers immer berücksichtigt werden, so Bertacchi.
[18] Bertacchi, Il reinserimento die reduci, S 272.
[19] Vgl. Labanca, La memoria del ritorno, S LXI.
[20] Vgl. Bertacchi, Il reinserimento dei reduci, S 274.
[21] Curnis, Bernardo. Ex-Internierter, Zeugenaussage, In: Bertacchi, Il reinserimento die reduci, S 275.
[22] Sommaruga. 2001. S 206
[23] Sommaruga, No!, S 206.
[24] Vgl. Dragoni, La scelta degli I.M.I., S 372.
[25] Vgl. Dragoni, La scelta degli I.M.I., S 376.
[26] Sommaruga, No!, S 206.
[27] Vgl. Somaruga, No!, S 206.
[28] Vgl. Finati, Le giovani generazioni del Fascismo, S 314.
[29] Desana, Paolo. In: Vaenti, Il ritorno dei lager, S 95.
[30] Vgl. Sani. In: Vaenti. 1996. S 95
[31] Guareschi, Givoanni. In: Dragoni, La scelta degli I.M.I., S 376.
[32] Vgl. Dragoni, La scelta degli I.M.I., S 377.
[33] Rochat, Giorgio. In: Bendotti - Bertacchi, Memoria, mito e autorappresentazione, S 678.
[34] Vgl. Bendotti - Bertacchi, Memoria, mito e autorappresentazione, S 687.
[35]  Vgl. Dragoni, La scelta degli I.M.I., S 277-279.
[36] Vgl. Goffman, Asyle, S 83.
[37] Vgl. Devoto, Il comportamento umano in condizioni estreme, S 76f.
[38] Vgl. Martini, Promblemi psicologici dei deportati, S 17-22.
[39] Caleffi. In: Martini, Promblemi psicologici dei deportati, S 22.
[40] Vgl. Martini, Problemi psicologici dei deportati, S 26.
[41] Vgl. Solomon, In: Martini, Problemi psicologici die deportati, S 26.
[42] Miller, In: Devoto, Il comportamento umano in condizioni estreme, S 39.
[43] Vgl. Martin, In: Devoto, Il comportamento umano in condizioni estreme, S 39–40.
[44] Vgl. Martini, Promblemi psicologici dei deportati, S 37f.
[45] Vgl. Devoto, Considerazioni psicholgiche, S 136ff.
[46] Vgl. Bravo, Analisi del comportamento umano.
[47] Carpene, Niccolò, Ex-Internierter, Zeugenaussage, In: Labanca, La memoria del ritorno, S 26.
[48] Guasconcini, Carlo, Ex-Internierter, Zeugenaussage, In: Labanca, La memoria del ritorno, S 159.
[49] Vgl. Labanca, La memoria del ritorno, S LXI.
[50] Vgl. Martini, Problemi psichologici dei deportati, S 44-45.
[51] Vgl. Frankl, Uno psichologo nei lager, S 146-151.
[52] Vgl. Lazzeri, Carlo. Ex-Internierter, Zeugenaussage, In: Labanca, La memoria del ritorno, S 53.
[53] Vgl. Labanca, La memoria del ritorno, S LXII.
[54] Vgl. Violante, La patologia tardiva, S 93-97.
[55] Vgl. Dragoni, La scelta degli I.M.I., S 37f.
[56] Vgl. Labanca, Appunti sul ritorno degli Internati Militari Italiani, S 463f.
[57] Vgl. Labanca, La memoria del ritorno, S 465.
[58] Labanca, La Memoria del ritorno, S XXIV.
[59] Vgl. Labanca, La memoria del ritorno, S XXIV.
[60] Vgl. Willke, Systemtheorie I, S 183f.
[61] Willke, Systemtheorie, S 183.
[62] Vgl. Willke, Systemtheorie, S 187.
[63] Vgl. Bistarelli, Reducismo e associazionismo, S 222-224.
[64] Vgl. Labanca, La memoria del ritorno, S XXVII.
[65] Vgl. Labanca, Il ritorno, S 216f.
[66] Vgl. Labanca, Fra sterminio e sfruttamento,  S 273.
[67] Vgl. Labanca, La memoria del ritorno, XXVII – XXVIII.
[68] Vgl. Labanca, La memoria del ritorno, S XXVII.

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